Onegin (2006)
Cranko (2006)
Tschaikowski Impressionen (2005)
Tschaikowski (2005)










John Crankos ONEGIN: mehr als ein Ballett

"Eine Handlung wird erzählt, und diese Handlung führt in gewissen Momenten zwangsläufig zum Tanz. Nicht, wie es sonst üblich war, dass Tanznummern geschaffen und möglichst rasch durch Pantomimen zu einer Pseudohandlung verbunden werden. Dadurch erhalten die großen Ballette Crankos etwas Notwendiges, Zwingendes und zugleich ganz und gar Natürliches. Keine Divertissements als Füllsel, die nicht dramaturgisch gefordert sind. Alles ist zu einer echten großen Einheit verbunden."
Dr. Walter Erich Schäfer, Intendant der Württembergischen Staatstheater 1949-72


Nur wenige Choreographen des 20. Jahrhunderts haben es erreicht, dass ihre Werke Jahrzehnte nach ihrer Uraufführung noch aufgeführt werden. Außer Klassikern wie Dornröschen, Giselle und vielleicht noch Schwanensee sind zwar eine ganze Reihe von "alten" Balletten im internationalen Repertoire zu finden, doch kaum in ihrer originalen Choreographie: Bayadère, Nussknacker, Feuervogel, Sacre du printemps, Bolero oder Romeo und Julia, werden in unzähligen Bearbeitungen und neuer Choreographie gezeigt, wobei meist nur die Musik den ursprünglichen Titel rechtfertigt. Aber selbst wenn ein Ballett heute noch in seiner choreographischen Erstfassung aufgeführt wird, dann am ehesten dort, wo es kreiert wurde. Doch es gibt Ausnahmen. Einige Werke von Balanchine, Forsythe, Kylian, Neumeier, MacMillan, Robbins, van Manen und Cranko haben den Weg ins aktuelle Repertoire der großen Kompanien gefunden. Man kann sie an wenigen Händen abzählen. ONEGIN ist ein solches Ballett. Es ist heute, vierzig Jahre nach seiner Uraufführung, eines der besterzählten Ballette des Repertoires, eine Choreographie, die ohne Umschweife eine wenngleich traurige Geschichte erzählt und das so deutlich, dass der Zuschauer weder die Handlung vorher kennen noch mit dem spezifischen Ausdrucksvokabular eines Balletts vertraut sein muss.

Die Entstehung von ONEGIN, Ballett in drei Akten von John Cranko nach Alexander Puschkin

Im Schaffen des Dichters Alexander Puschkin nimmt der achtteilige Versroman Eugen Onegin, entstanden in den Jahren 1823 bis 1830, eine zentrale Stellung ein. Die detaillierte Darstellung russischen Lebens wurde schon lange vor der Entstehung der gleichnamigen Oper als Standardwerk russischer Literatur gefeiert. Als der Stoff 1877 von Peter Tschaikowski vertont wurde, wurden Eugen Onegin und Tatjana Larina auch außerhalb Russlands berühmt, und ihre unglückselige Liebesgeschichte erreichte als Oper ein noch weitaus größeres Publikum als das Puschkinsche Original. Tschaikowskis lyrische Szenen sind bis heute die bekannteste und erfolgreichste russische Oper geblieben. Doch erst weitere neunzig Jahre später, im Stuttgart der sechziger Jahre, feierte eine Ballettkompanie mit diesem Stoff ihren schönsten Triumph: John Cranko schuf als abendfüllendes Ballett in drei Akten seinen ONEGIN.
Als junger Tänzer kam Cranko 1946 aus Südafrika nach London ans Sadler’s Wells Theatre, wo die legendäre Ninette De Valois sein choreographisches Talent erkannte und förderte: Er choreographierte zwischen 1946 und 1960 zahlreiche Ballette und Balletteinlagen, unter anderem Tritsch-Tratsch, Pineapple Poll, The Lady and the Fool, die Cranks, Der Pagodenprinz für das Royal Ballet und Romeo und Julia für das Ballett der Mailänder Scala. Für eine Londoner Neuinszenierung von Tschaikowskis Oper Eugen Onegin unter George Devine choreographierte er 1952 die Tanzszenen. Schon damals, erzählte er später, habe er sich mit einer Ballettversion dieses Stoffes befasst: "Das Werk schien mir für ein Ballett viel geeigneter zu sein."
Noch als John Cranko 1961 als 33-jähriger in Stuttgart Ballettdirektor wurde, deutete nichts darauf hin, dass diese Tanztruppe in den nächsten zwölf Jahren zur besten deutschen Ballettkompanie mutieren würde, mit charismatischen Tänzern und überaus erfolgreichen Choreographien. Oder um De Valois zu zitieren: "Es war offensichtlich, dass er ein begabter Choreograph war. Er besaß Witz, Fantasie und die ach so seltene und gesegnete Gabe der Leichtigkeit. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Aber wir wussten nichts über seine Fähigkeiten, eine Kompanie zu schaffen und ein Repertoire aufzubauen. Es war beinahe ein Wunder."
Cranko lieferte also - kurz gesagt - in seiner Londoner Zeit seine Gesellenstücke ab und formte dann in Stuttgart die dortige Opernballettkompanie zu "seinem" Stuttgarter Ballett. Und mit diesen Tänzern entwickelte er seine Ballette, wobei sein erster großer Erfolg eine überarbeitete Fassung seiner Inszenierung von Romeo und Julia (1962) war, die die Kompanie schlagartig ins internationale Rampenlicht rückte. Er sprach häufig davon, ein ONEGIN-Ballett zu choreographieren, doch erst 1964/65 nahm diese Idee konkrete Formen an. In Percivals Cranko-Biografie ist zu lesen, dass Cranko ONEGIN am Covent Garden für Margot Fonteyn und Rudolf Nurejew choreographieren wollte, ursprünglich hatte er vorgehabt, eine Bearbeitung der Opernmusik für sein Ballett zu verwenden, unter anderem reizte ihn Gremins Arie aus dem letzten Akt, zu der er sich einen Liebes- Pas de deux vorstellte. Die Londoner Direktion allerdings wollte von einer derartigen Verwendung der Opernmusik nichts wissen. Und dasselbe galt, wie sich herausstellte, für den Stuttgarter Intendanten, Dr. Walter Erich Schäfer. Der hatte sich - ungefähr zur gleichen Zeit - auch an den Kopf gefasst, als Cranko seinen Kollegen Kenneth MacMillan in Stuttgart Mahlers Lied von der Erde choreographieren lassen wollte, ein Projekt, das MacMillan ebenfalls ursprünglich für das Royal Ballet in London vorgesehen hatte, und das schließlich in Stuttgart realisiert wurde.
Da die Verwendung von Tschaikowskis Opernmusik keine Unterstützung erfuhr, ließ Cranko in Stuttgart seinen musikalischen Mitarbeiter Kurt-Heinz Stolze aus weitgehend unbekannten Tschaikowski-Stücken eine musikalische Partitur zusammenstellen, der hauptsächlich Klavierkompositionen, Teile einer Oper (Oxanas Launen) und die symphonische Dichtung Francesca da Rimini zugrunde lagen. Stolze hatte in Hamburg Klavier, Orgel, Dirigieren und Komposition studiert und war über die Opernhäuser in Hamburg und Stockholm 1959 nach Stuttgart gekommen, wo er als Dirigent und Korrepetitor tätig war und in der Folge für Cranko mehrere Ballettabende musikalisch betreute. Vor Cranko hatte sich nur Victor Gsovsky an eine Ballettbearbeitung des Puschkin-Stoffes gemacht: für Ballet Comique, eine Kompanie unter der Leitung von George Kirsta, schuf er ein Ballett namens Eugene Onegin Suite, das im Mai 1954 in Oxford aufgeführt wurde, Irène Skorik und Denys Palmer tanzten die Hauptrollen. Die Musik bestand aus von Leonard Hancock zusammengestellten Auszügen aus der Tschaikowski-Oper.
Als Cranko schließlich seinen ONEGIN choreographierte, berief er sich gänzlich auf Puschkin, er übernahm die fünf Hauptfiguren und konzentrierte sich auf Tatjana und Onegin. Die eigentliche Choreographie entstand, wie meist bei Cranko, sehr rasch innerhalb von sechs Wochen. Im Vorfeld war der Choreograph mit seinen Tänzern ins Kino gegangen, ein russischer Film von Tschaikowskis Oper war 1964 im Westen herausgekommen. Cranko sah den Film mehrfach und nutzte ihn als Anschauungsunterricht in russischer Mentalität und Haltung, sowie zum Kennenlernen von theatraler russischer Atmosphäre. Er entwarf mit seinen Protagonisten Ray Barra und Marcia Haydée die Persönlichkeitsstruktur der Figuren und ließ sie ihren eigenen Zugang und Ausdruck finden. Gemeinsam entstand die Choreographie der beiden Pas de deux.
Doch obgleich die Tänzer bereits bei der Uraufführung glaubhafte Rollenporträts vorweisen konnten, war ONEGIN noch längst nicht der geniale Wurf, als der er sich heute im internationalen Ballettrepertoire behauptet. Bei seiner Uraufführung am 13. April 1965 wurde das Ballett von der Presse fast ausnahmslos verrissen. Cranko wurde dilettantisches Scheitern attestiert, die Aufführung als Ärgernis bezeichnet. Im provinziellen Stuttgart wurde so manches zerrissen, was erst nach erfolgreichem Gastspiel 1969 in New York, dem damaligen Mekka der Theaterszene, auch im Schwabenland von den Journalisten akzeptiert wurde. Beim ballettomanisch infizierten Stuttgarter Publikum allerdings erfreute sich ONEGIN in den wenigen Vorstellungen nach der Premiere einer geradezu enthusiastischen Aufnahme. Als Ray Barra, einziger Tänzer der Titelpartie, nach einem Achillessehnenriß im Januar 1966 ausfiel, folgten noch zwei Aufführungen mit dem Londoner Gasttänzer Donald MacLeary an der Seite von Marcia Haydée, dann wurde das Ballett aus dem Repertoire genommen.

Die beiden Fassungen: 1965 und 1967

Den zeternden Uraufführungskritikern muss man eines zugute halten: Was 1965 im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater zu sehen war, unterschied sich vom heutigen ONEGIN in wesentlichen Punkten: Ausstattung und Aufbau, die Choreographie insbesondere der Gruppenszenen und große Teile der Musik wurden zwischen der Uraufführung 1965 und der Premiere der Neufassung 1967 überarbeitet und geändert, manche Szenen gar ganz gestrichen. In der ursprünglichen Fassung ging dem I. Akt eine Szene voraus, wo Onegin am Sterbebett seines Onkels die kriecherische Verwandtschaft seine Verachtung spüren lässt. Die Streichung dieses dramaturgisch zwar sinnvollen aber gänzlich bühnenunwirksamen Prologs, der dem Ballettabend einen peinlichen Auftakt verschaffte, und einer kurzen, aber kitschigen Szene im III. Akt, wenn Tatjana ihre beiden Kinder zu Bett bringt, waren nur zwei der auffälligeren Änderungen, die Cranko nach der Premiere vornahm. Von der ursprünglichen Choreographie blieb letztendlich nur ein Drittel erhalten, vor allem die beiden großen Pas de deux. Das Gleichgewicht zwischen Gruppenszenen und Soli musste erst geschaffen werden, der Schwerpunkt lag allzu auffällig auf den vier Hauptakteuren, die Ensembles fielen stark ab. Der Klavierauszug der Uraufführung belegt, dass ganze Szenen mit neuer Musik unterlegt wurden: die umfangreiche Überarbeitung insbesondere der Gruppentänze ließen diese an choreographischer Substanz und dramaturgischer Verzahnung gewinnen, das Ballett erhielt damit den ursprünglich nicht vorhandenen Rahmen. Cranko reagierte hierbei streckenweise sehr verständig auf die Einwände der Kritiker, in anderen Dingen blieb er stur. Was ihm dramaturgisch notwendig erschien - beispielsweise die Anwesenheit der beiden Mädchen in der Duellszene im II. Akt, ohne die Tatjanas verachtender Blick zum Aktschluss nicht möglich wäre -, verteidigte er gegen jede Kritik. Dass eine solche Szene eine glatte Unmöglichkeit im Russland des 19. Jahrhunderts darstellte, störte ihn überhaupt nicht. Historische Authentizität auf der Bühne war ihm längst nicht so wichtig wie die Gefühle der Figuren. "Mich reizte an ONEGIN vor allem, dass die Geschichte gleichzeitig ein Mythos und eine gefühlsmäßig nachvollziehbare Situation ist. Ein blasierter Mann von Welt, der nicht mehr zu fühlen vermag, begreift die Bedeutung des hässlichen Entleins nicht. Als es sich dann in einen Schwan verwandelt, möchte er es plötzlich zurück haben; Tatjana hingegen erkennt, wie hohl und gelangweilt er in Wahrheit ist. Und während ihr Gefühl ihr sagt: 'Nimm ihn', rät der Verstand ihr: 'Nimm ihn nicht.'" Es war dieser Kontrast zwischen Emotionalität und Rationalität in der Figur Tatjanas und der Umkehrung der Rollen zwischen ihr und dem Skeptiker Onegin, der sich vom Ebenbild der Gleichgültigkeit zum Opfer eben dieser Indifferenz wandelt, der Cranko faszinierte.
Heute machen die Ausgewogenheit der Gruppenszenen und Soli einen Großteil der Qualität von ONEGIN aus. Cranko charakterisierte seine Arbeit wie folgt: "Es soll keine Tanznummern geben, die für sich stehen. Innerhalb jeder Nummer muss der Charakter am Ende in einem anderen Zustand sein als er es am Anfang war. Oder die Handlung muss weitergehen. Eine Einlage allein genügt nicht." In ONEGIN gibt es keinen einzigen Schritt, der für das Drama, für die Geschichte nicht notwendig oder zumindest sinnvoll wäre. Das Besondere hierbei ist, dass es keine Sekunde Leerlauf gibt, nicht für den Zuschauer und nicht für den Tänzer. Zum Beispiel die Geburtstagsfeier im II. Akt: das Ballett strotzt hier geradezu vor kleinen und kleinsten Gesten, die dem Bühnengeschehen Leben verleihen, und obgleich Cranko lediglich Ballettgesten verwendet - alle Bewegungen sind keine Alltagsgesten - wirkt alles erstaunlich gewöhnlich. Und diese Fülle an Bewegungen, Geplänkel, Individuen lenken nicht von Tatjana und Onegin ab, beide sind in ihrem Handeln präsent, als wären sie allein auf der Bühne.
Außerdem war Cranko neugierig auf die Möglichkeiten für umfangreiche Tanzszenen in gegensätzlichen Stilen, die das Werk in jedem Akt bietet: "Wir beginnen mit Bauerntänzen; dann folgt das bürgerliche Milieu auf Tatjanas Geburtstag; und schließlich im letzten Akt der aristokratische Ball. Und in der Mitte findet ein sehr kunstvoller Pas de quatre statt." Die Differenzierung im Milieu, die sich in Choreographie und Ausstattung niederschlug, lässt eine Steigerung erkennen vom ländlichen Idyll zur St. Petersburger Aristokratie. Vor allem den II. Akt, in dessen Verlauf die Erzählung zum Wendepunkt und zur Katastrophe (Lenskis Tod) gelangt, lockerte Cranko durch humoristische Elemente auf. Die karikierten Alten auf Tatjanas Geburtstag stehen hier im scharfen Kontrast zu Tatjanas Liebeskummer und Onegins unheilvollem Flirt.
Die wichtigsten Teile der Choreographie und Kulminationspunkte der Handlung sind jedoch Crankos Pas de deux’ im I. und III. Akt. Der Spiegel- Pas de deux löst in spektakulärer Weise das Problem der Darstellung des Briefs: Cranko lässt den Inhalt des Briefs einfach tanzen. Spielt sich hier alles in der Höhe ab - Onegin wirbelt Tatjana in rauschenden Hebungen durch die Luft -, so präsentieren sich die Protagonisten im Schluss- Pas de deux wie von Bleigewichten zu Boden gedrückt. So leicht und ätherisch der Traum im I. Akt, so erdenlastig und bleiern zeigt sich das schicksalsschwere Finale. Als die Neufassung 1967 Premiere hatte, war die Presse zwar immer noch skeptisch, aber Cranko führte Ballett und Kompanie trotzdem zum Triumph. So schrieb Clive Barnes nach dem New York-Gastspiel 1969: "Crankos Choreographie hat zwei entscheidende Stärken. Erstens die Kraft seiner Arbeit mit dem Ensemble; hier beweist er, wie vollkommen er die Bühne beherrscht. Aber zweitens - und das ist möglicherweise noch entscheidender - die Eleganz und Ausdruckskraft seiner Pas de deux." Und über die Tänzerin der Tatjana schrieb er: "So scharf wie eine Rasierklinge, so intensiv wie eine grausame blaue Flamme, so fraulich wie eine Bäuerin, verfügt Marcia Haydée über die richtigen choreographischen Wahrheiten und dramatischen Unvereinbarkeiten, die Größe bedeuten."

Wie ONEGIN bis heute weiterlebt

Nach der Premiere der Neufassung 1967, diesmal mit Heinz Clauss und Marcia Haydée, wurde diese Version allein vom Stuttgarter Ballett bis heute über 500 mal getanzt. 1972 studierte Cranko ONEGIN mit Heinz Bosl und Konstanze Vernon beim Ballett der Bayerischen Staatsoper München ein. 1976 folgten Aufführungen beim Australian Ballet und beim Königlich Schwedischen Ballett, später beim London Festival Ballet, beim National Ballet of Canada, beim Ballett der Hamburgischen Staatsoper und dem Ballett der Deutschen Oper Berlin. Heute gibt es nur wenig international bedeutsame Kompanien, die ONEGIN nicht im Repertoire haben. Die letzten Jahre übernahmen u. a. das Royal Ballet London, das American Ballet Theatre New York, das Königlich Dänische Ballett Kopenhagen, das Ballett der Ungarischen Staatsoper Budapest, das Ballett der Deutschen Staatsoper Berlin, das Ballett des Teatro alla Scala und nun das Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper Crankos Choreographie des Puschkinstoffes. Das Ballett des Nationaltheaters Prag übernahm 2005 ebenfalls die Cranko-Version, nachdem dort 1999 Vasilij Medvedev eine eigene Version eines Onegin-Ballettes präsentiert hatte.
Die Attraktivität von Crankos ONEGIN für Tänzer besteht hauptsächlich in der kompromisslosen Darstellung von Charakteren, bei denen Darsteller und Rollencharakter verschmelzen. Diese Echtheit von Gefühlen, von Beziehungen hat Cranko in seinen Balletten nicht nur im Probenprozess, sondern gerade auf der Bühne gefordert. Eine Tatjana kann erst dann eine gute Tatjana sein, wenn sie das Gefühl, die Verzweiflung, die Liebe über die Rampe bringt. Und dazu bedarf es einer Darstellerin, einer Künstlerin und nicht nur einer Ballerina. Diese Möglichkeit zur Darstellung eines Reifeprozesses machen die ONEGIN-Figuren heute wie vor vierzig Jahren zu den attraktivsten Bühnenfiguren überhaupt.
Als Cranko 1973 starb, hinterließ er ein reiches Repertoire. Nicht nur ONEGIN, Der Widerspenstigen Zähmung oder seine Version von Romeo und Julia, die alle drei von zahlreichen Kompanien nachgetanzt werden, auch Ballette wie Initialen R.B.M.E., Opus 1, Presence, Carmen oder Katalyse. Er hatte eine Schule geschaffen, die ihm sehr am Herzen lag, und er hinterließ seinen Namen und seinen Ruhm. Aber vor allem hinterließ er seine Kompanie, eine Kompanie mit Tänzern, die seinen Stil, seine Arbeitsweise und seine Besonderheit pflegen und weitergeben: Anne Woolliams, Georgette Tsinguirides, Marcia Haydée, Egon Madsen, Richard Cragun, Birgit Keil, Judith Reyn, Reid Anderson, sie alle haben mit Cranko gearbeitet und seinen Samen weiter ausgestreut. Unter den Tänzern, die in den 70-er Jahren und später zum Stuttgarter Ballett stießen, war kaum einer, der nicht wegen Cranko und seinen Balletten nach Stuttgart gekommen war. Die Stuttgarter Ballerinen, egal ob Annie Mayet oder Sue Jin Kang, waren alle ausnahmslos wegen Marcia Haydée und ihrer Interpretation der Cranko-Partien nach Stuttgart gekommen, wegen dem Ausdruck ihrer menschlichen Tiefe auf der Bühne, wegen der Persönlichkeit, die die Rollen ausfüllte, wegen der Frau, die die Grenzen zwischen Rolle und Tänzerin verschwinden ließ. Der heutige stellvertretende Stuttgarter Ballettdirektor, Tamas Detrich, sah Haydée und Cragun in einer ONEGIN-Vorstellung in der MET und bekniete daraufhin seine Eltern, ihn nach Stuttgart auf die Schule zu schicken. Und diese Anekdote ist beileibe kein Einzelfall, die magnetische Wirkung der Stuttgarter Kompanie ist Legende geworden. Und darin liegt Crankos wohl größtes Verdienst: er ließ seine Tänzer in sich die Fähigkeit entdecken, mit ihrer ganzen Menschlichkeit die Figuren in seinen Balletten mit prallem Leben zu erfüllen. Dieses Ganz-in-der-Rolle-Aufgehen macht Crankos Figuren zu den darstellerisch anspruchsvollsten und schönsten der Ballettliteratur. Die Tänzer aus aller Welt danken es ihm heute noch.

Programmheftartikel für das Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper zur Neuproduktion von Onegin 2006.