Onegin (2006)
Cranko (2006)
Tschaikowski Impressionen (2005)
Tschaikowski (2005)










Nachdenken über Cajkovskij

Das Leben Cajkovskijs birgt viele Rätsel: Obwohl sein Tod kaum 110 Jahre zurückliegt und sich unzählige Dokumente über ihn erhalten haben - Briefe, Zeugnisse von Zeitgenossen und nicht zuletzt seine musikalischen Werke -, erscheint sein Charakter in einem widersprüchlichen Licht: zuviel haben Biografen und insbesondere sein eigener Bruder Modest verfälschend dargestellt.
Zum Beispiel sein Tod: gesichert ist nur, dass er ein Glas vergifteten Wassers zu sich nahm und daraufhin starb. Woran genau – ob er an der Cholera starb, vergiftet oder gar zum Selbstmord gezwungen wurde - lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Oder sein Liebesleben: dass er homosexuell war und deshalb zumindest in seiner ersten Lebenshälfte große Skrupel hatte, bezeugen seine Briefe. Zwar umgab er sich mit schmucken Dienern und hübschen Jünglingen, doch ob er jemals die Erfüllung körperlicher Liebe erlebte, ist heute nicht mehr nachzuweisen. Die Vielzahl seiner beruflichen Betätigungen - er war nach seiner juristischen Ausbildung als Musiklehrer, Journalist, Komponist, Pianist und schließlich auch Dirigent tätig - und die Schönheit seiner Musik lassen uns seine Zerrissenheit und Ängste erahnen. Prägend war der frühe Verlust der Mutter, den er nie verwand. Diese schmerzliche Lücke konnte niemand wirklich füllen, weder die Sängerin Désirée Artôt noch seine Ehefrau Antonina oder die „teuerste Freundin“ Nadezda - und auch nicht etwaige Liebhaber, in deren Armen er sexuellen Trost gefunden haben mochte. Seine Biografen attestieren ihm ein unbewusstes Bedürfnis nach Selbsterniedrigung, krankhaft übersteigerte Gefühle und eine passive, hypochondrische und misanthropische Einstellung gegenüber der Umwelt.
Seine Briefe überliefern ein von Überschwang und sprachlicher Leidenschaft geprägtes Persönlichkeitsbild: „Welch Glück ist es doch, Künstler zu sein! In den traurigen Zeiten, die wir erleben, vermag nur die Kunst von der bedrückenden Wirklichkeit abzulenken. Am Klavier isoliere ich mich vollkommen von allen quälenden Fragen, die uns belasten. Ich kann nur durch meine Musik zum Glück der Menschen beitragen.“ (1878) Sein Enthusiasmus über die Natur, insbesondere das Wachstum der Blumen, ist rührend: „Die Freude, die ich empfand, als ich das tägliche, beinah stündliche Erscheinen neuer und immer wieder neuer Blüten beobachtete, lässt sich kaum beschreiben! Wenn ich alt bin und nicht mehr komponieren kann, werde ich mich der Blumenzucht widmen.“ (1888) Und seine Naivität, insbesondere in seinen Musikkritiken der 70er Jahre, ist Legende: „Ich habe mich nie so sehr gelangweilt wie bei Tristan und Isolde. Es ist die ermüdendste und nichtssagendste in die Länge gezogene Geschichte, ohne Bewegung, ohne Leben, völlig unfähig, das Interesse des Zuschauers aufrechtzuerhalten oder irgendwelche Gefühle für die Hauptpersonen zu empfinden.“ (1883)
Kernpunkt jeder Beschäftigung mit Pëtr Cajkovskij ist naturgemäß sein Briefwechsel mit Nadezda von Meck, der er glühende Briefe voll ewiger Liebe und Dankbarkeit schrieb, um am selben Tag seinen Brüdern gegenüber zu lamentieren, dass ihn die ewige Briefschreiberei langweile und er ungeduldig auf die nächste Geldsendung warte. Doch er glaubte in Nadezda etwas gefunden zu haben, was er stets vermisste, einen Mutterersatz, jemanden, dem er zugleich innig nah und doch fern war, den er verehren konnte und der seinerseits ihn verehren würde – immer in sicherer Entfernung. Und wer könnte das besser leisten als die Frau, die ihm bereits in ihren ersten Briefen beteuert hatte, er sei ihr Ideal und sie wolle ihn deshalb in seiner Leiblichkeit weder sehen noch sprechen. Dass er meist nur nach einem Schlückchen Wodka Briefe schreiben konnte und sich oft großer Todessehnsucht hingab („Der Tod ist der größte Segen; mit der ganzen Kraft meiner Seele erflehe ich ihn.“), verwundert in diesem Kontext kaum.
Und doch, kein russischer Komponist ist populärer, berühmter geworden als Cajkovskij, seine Nussknacker-Suite gehört zu den volkstümlichsten Melodien überhaupt. Von seinen Opern haben Eugen Onegin und Pique Dame ihren festen Platz im heutigen Opernrepertoire; seine Symphonien, insbesondere die Pathétique, die Orchesterwerke 1812, Romeo und Julia, Francesca da Rimini und sein b-moll Klavierkonzert sind Dauerbrenner im Konzertbetrieb. Und was wäre die Ballettgeschichte ohne seine Partituren zu Dornröschen; Nussknacker und Schwanensee? Diese wohl berühmtesten Ballette überhaupt haben in der Choreografie von Petipa und Iwanow einen weltweiten Siegeszug ohnegleichen angetreten, der bis heute andauert und an dem Cajkovskijs Musik großen Anteil hat. Zahlreiche Biografen haben über Cajkovskij und seine nachgelassenen Briefe ihre Werke verfasst, Ken Russell präsentierte 1970 einen reißerischen Film mit Richard Chamberlain in der Hauptrolle, mehrere Choreografen schufen Ballette über Cajkovskijs Leben. Und der Stuttgarter Ballettchef John Cranko kreierte 1965 eine umjubelte Ballettversion von Eugen Onegin mit neu arrangierter Musik des Komponisten.

Kommunikation zwischen Pëtr Cajkovskij und Nadezda von Meck

Über 1200 Briefe dokumentieren die Verbundenheit des Komponisten und der reichen Witwe. Das Ungewöhnliche daran ist nicht, dass beide viele lange und teilweise recht intime Briefe geschrieben haben - das haben sie mit vielen Zeitgenossen gemein. Einzigartig ist, dass sich die beiden nie persönlich begegneten und nie miteinander gesprochen haben. Zwar sah sie ihn in seinen Konzerten oder er sah sie, die kurzsichtig war, in ihrer Opernloge, einmal begegneten sie sich zufällig auf der Straße, doch es kam zu keinem unmittelbaren Kontakt. Sie wohnten zeitweise Haus an Haus, doch er besuchte ihre Wohnung nur, wenn sie nicht da war. Von Seiten Nadezda von Mecks bestand zwar zeitweilig der Wunsch nach persönlicher Bekanntschaft, doch der menschenscheue Cajkovskij blockte jeglichen direkten Kontakt zu seiner Verehrerin und späteren Mäzenin konsequent ab. Auch ihrem Vorschlag, sich wenigstens brieflich zu duzen, widersetzte er sich. Eine Kommunikation, die damals wie heute zumindest merkwürdig scheint.
Im 19. Jahrhundert war die briefliche Kommunikation die gängige Form des Kontaktes, bis zur Einführung des Telefons war die schriftliche Äußerung die einzige Alternative zur direkten Begegnung. Und mit zunehmender Präsenz des Telefonapparats trat das Phänomen der Brieffreundschaft immer mehr in den Hintergrund. Erst mit der Einführung der E-mail und des Chats im Internetforum erlebte der schriftliche Privatkontakt eine Renaissance. Heute ist es völlig normal, sich anonym übers Internet kennen zu lernen und ebenso anonym zu kommunizieren. Der fahle Beigeschmack der Kontaktanzeigen oder Partnerbörsen, noch in den 90ern absolut präsent, ist heute in den Hintergrund gerückt. Kommunikation ohne sich zu kennen, also ohne sich zu begegnen, stellt zumal bei Jugendlichen etwas völlig Selbstverständliches dar. Der anonyme Kontakt ist wieder salonfähig geworden. Und nur wenige solcher Internetbekanntschaften münden in unmittelbar persönliches Kennenlernen.
Dass Teenager von heute den anonymen Kontakt und das Forum schriftlicher Beteuerungen der direkten Begegnung vorziehen, hat im Grunde dieselben Ursachen wie bei Pëtr Cajkovskij und Nadezda von Meck: eine große Unsicherheit in Bezug auf die eigenen Gefühle und den Umgang mit dem anderen Geschlecht, ein aus Angst resultierendes Schutzbedürfnis, das die eigenen Emotionen auf ein Phantombild projiziert, und nicht zuletzt eine lückenhafte Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit, kurz: eine rundum problematische Konstellation. So stehen gut hundertfünfundzwanzig Jahre nach ihrer spektakulären Brieffreundschaft Pëtr Cajkovskij und Nadezda von Meck mit ihren schriftlichen Beteuerungen als unfreiwillige Ahnherren für eine ganze Generation. Sie waren ihrer Zeit voraus. Oder anders gesagt: Wir sind in unserer Entwicklung zurückgefallen.

Briefe Cajkovskijs
Cajkovskij an seinen Bruder Modest Cajkovskij 1876
Bayreuth hat bei mir einen trüben Eindruck hinterlassen: Mag sein, dass der Ring des Nibelungen an sich eine großartige Komposition darstellt, aber ich habe niemals etwas so langweiliges und in die Länge gezogenes gehört. Eine Sammlung kompliziertester Harmonien, die Gesangspartien farblos, endlose Dialoge, eine höllische Dunkelheit auf der Bühne, die Abwesenheit jeglicher Poesie - all das ist wahrhaftig nervtötend. Früher war man bemüht, die Leute durch Musik zu erfreuen, heute quält und erschöpft man sie. Natürlich sind auch schöne Stellen darin, aber insgesamt ist es zum Sterben langweilig.

Cajkovskij an seinen Bruder Modest Cajkovskij 1876
Ich habe in diesen Tagen viel über mich nachgedacht. Das Ergebnis all dieser Überlegungen ist, dass ich mich von heute ab ernstlich bemühen muss, in aller Form zu heiraten, irgendwen. Ich bin mir bewusst, dass meine Neigungen das größte Hindernis auf dem Weg zum Glück sind und ich muss mit allen Kräften gegen meine Natur ankämpfen... Ich will alles mögliche tun, um noch in diesem Jahr zu heiraten, sollte ich aber den Mut dazu nicht haben, muss ich doch auf jeden Fall meinen Gewohnheiten entsagen...

Cajkovskij an Nadezda von Meck 1877
Da Sie aber einmal mein bester Freund sind, teure Nadezda Filaretovna, so sollen Sie auch alles, alles wissen, was in meiner merkwürdigen und kranken Seele vorgeht! Morgen werde ich es bedauern, heute ist es mir jedoch eine Erleichterung gewesen, Ihnen etwas vorzujammern. Wissen Sie, wie es mir an solchen Tagen, wie heute, manchmal geht? Es scheint mir plötzlich, dass mich im Grunde niemand lieb hat und auch nicht lieb haben kann, denn ich bin ein elender Mensch. Und ich habe nicht die Kraft, solche Gedanken von mir zu weisen...

Cajkovskij an Nadezda von Meck 1878
Ich habe Schopenhauer durchgelesen. Solange er den Beweis führt, dass es besser sei, nicht zu leben, sagt sich der Leser: Er hat zwar recht, aber was soll ich tun? Und in der Beantwortung dieser Frage erweist sich Schopenhauer als schwach.

Cajkovskij an Nadezda von Meck 1878
Die schönsten Augenblicke meines Lebens sind die, in denen ich sehe, wie meine Musik zutiefst auf die Menschen einwirkt, die ich liebe, auf jene, deren Zuneigung mir mehr bedeutet als Ruhm und Erfolg. Muss ich Ihnen sagen, dass Sie es sind, die ich mit allen Kräften meines Herzens liebe, denn in meinem ganzen Leben habe ich keinen Menschen getroffen, der mir so nah, so verwandt war, so offen für meine Gedanken und so empfänglich für jeden Schlag meines Herzens. Ihre Freundschaft ist mir so unentbehrlich geworden wie die Luft, die ich atme, und es gibt keine Minute, in der Sie nicht mit mir sind. Wohin meine Gedanken auch gehen, immer begegnen sie der Gestalt meiner fernen Freundin, deren Liebe und Zuneigung zum Eckstein meines Lebens geworden sind. Und wenn ich komponiere, habe ich immer im Sinn, dass Sie es einmal hören und erfühlen werden, was ich gerade schreibe.

Cajkovskij an seinen Bruder Anatolij Cajkovskij 1878
Die Vergangenheit bedauern und auf die Zukunft hoffen, ohne je mit der Gegenwart zufrieden zu sein, so verbringe ich mein ganzes Leben.

Cajkovskij an seinen Bruder Modest Cajkovskij 1878
Seit ich Romeo und Julia gelesen habe, erscheinen mir all diese Undinen, Berthaldas und Hugos dumm und kindisch. Genug damit, ich werde Romeo und Julia komponieren. Und kein Wort von dir kann meinen Enthusiasmus hemmen. Es wird mein Meisterwerk werden! Direkt komisch kommt mir jetzt vor, dass ich nicht früher erkannt habe, dass ich der Auserwählte bin, der die Musik zu diesem Drama schreiben wird. Ich kann mir schlichtweg nichts vorstellen, was meinem musikalischen Talent angemessener wäre. Keine Könige, keine Märsche, nichts von Grand Opéra! Statt dessen Liebe, Liebe und nochmals Liebe! Und was für ein vergnügliches Potential die Nebenfiguren beinhalten: Lorenzo, Tybalt, Mercutio. Es ist auch keine Eintönigkeit zu befürchten; das erste Liebesduett ist völlig anders als das zweite. Im ersten leuchtet alles klar und hell: die Liebe! Nichts kann die Liebe bedrohen oder hindern. Im zweiten - Tragik pur. Aus den unschuldig liebenden Kindern sind liebende und leidende Menschen geworden, gefangen in Tragik und hoffnungslosen Verhältnissen. So bald als möglich werde ich mit dieser Oper beginnen!

Cajkovskij an Nadezda von Meck 1878
Teure Freundin, Sie fragen mich, ob ich jemals Liebe anders als in platonischer Form erlebt habe. Ja und nein. Wenn Sie Ihre Frage anders formuliert hätten, wenn Sie mich gefragt hätten, ob ich je vollkommenes Glück in der Liebe erfahren habe, würde ich nein und nochmals nein geantwortet haben. Außerdem scheint es mir, als ob die Antwort auf diese Frage in meiner Musik hörbar ist. Wenn Sie mich aber fragen, ob ich je die ganze Macht und unaussprechliche Spannung der Liebe erlebt habe, dann muss ich antworten: ja, ja, ja. Denn ich habe mich immer wieder bemüht, durch die Musik die ganze Qual und Ekstase der Liebe wiederzugeben.

Cajkovskij an Nadezda von Meck 1879
Mein Leben lang habe ich unter dem Zwang gesellschaftlicher Beziehungen gelitten. Jede Bekanntschaft, jede Begegnung mit einem fremden Menschen war für mich stets die Ursache großer Qualen. Vielleicht ist es bis zur Manie gesteigerte Schüchternheit oder ein mangelndes Bedürfnis nach Umgang mit Menschen oder auch die Furcht, nicht als das zu erscheinen, was ich bin.

Programmheftartikel für das Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper zur Uraufführung von Tschaikowski Impressionen 2005.