Onegin (2006)
Cranko (2006)
Tschaikowski Impressionen (2005)
Tschaikowski (2005)










Arbeiten mit John Cranko - wie seine Ballette entstanden

"Er hat niemals vergessen, dass Tanzen Freude macht." Glen Tetley über John Cranko

"Was die Arbeit mit Cranko so unglaublich bereichernd machte, war der Kontakt, die Kommunikation, die sich intuitiv während der Ballettproben im Studio zwischen Choreograf und Tänzern ergab. Cranko war ein außergewöhnlicher Mensch, der sich bis zum letzten verausgabte und dieselbe Bereitschaft und Hingabe von seinen Tänzern erwartete und fand. Für ihn waren sie nicht in erster Linie technisch brillante Interpreten, er suchte vielmehr, auf ihrem Charakter aufzubauen. Der menschliche Kontakt, die Atmosphäre waren für ihn entscheidend. So verstand er es, eine Choreographie aus dem Charakter, der Mentalität, den physischen Veranlagungen eines jeden seiner Tänzer zu entwickeln. Er stellte höchste Ansprüche und förderte die Kreativität eines jeden. Dabei erkannte er, wann der richtige Ausdruck, die überzeugende Geste gefunden waren, und hielt diese unmittelbar fest. Seine Ballettschöpfungen sind aus einer engen Zusammenarbeit mit seinem Ensemble entstanden, das für alle eine einzige große Familie darstellte. Bei dieser passionierten Arbeit wuchs jeder über sich selbst hinaus, selbst Unmögliches wurde möglich." Die Stuttgarter Choreologin Georgette Tsinguirides hat mit dieser Aussage bereits den Kern von Crankos Arbeitsweise dargelegt: er kreierte im direkten Kontakt mit seinen Tänzern. Nie kam er mit präzisen Bewegungsabläufen oder einer am Reißbrett entstandenen Choreographie ins Studio. Vielmehr schwebte ihm eine gewisse Atmosphäre vor, eine Stimmung, und dieses Bild erarbeitete er gemeinsam mit seinen Tänzern und seinem Team.
Crankos Arbeit speiste sich im Wesentlichen aus vier Quellen: dem intensiven Studium von Musik und Literatur, schier endlosen Diskussionen mit Tänzern und Freunden, der harten Arbeit im Ballettsaal mit den Tänzern, denen er Bewegungen gab, die sie selber weiterentwickelten, und schließlich dem Einsatz seiner Ballettmeister, die seine Ideen ausführten, entwickelten, verfeinerten, putzten. Und all dies in einer Atmosphäre von heiterem Geltenlassen aller Gegensätze, von Toleranz, Freundschaft und Liebe und unter dem Gesetz äußerster Disziplin und Präzision.
Da war zunächst ein ungewöhnlich hochgebildeter Mann mit unkonventionellem Auftreten: die ersten zehn Jahre seines Stuttgarter Schaffens gab es zum Beispiel kein Ballettsekretariat. Cranko leitete sein Ensemble von einem Tisch in der Stuttgarter Theaterkantine aus, wo er täglich stundenlang mit seinen Tänzern zusammensaß und mit ihnen darüber sprach, wie man eine Ballettkompanie aufbaut, oder wie man Fähigkeiten von Tänzern weiterentwickelt (wenn er nicht gerade Kreuzworträtsel löste). Diese Gemeinschaft und das Miteinander bildete den Kernpunkt von Crankos Schaffen. Zuhause studierte Cranko dann meist noch weiter Musik und Literatur bis spät in die Nacht und war nach wenigen Stunden wieder im Ballettsaal. "Es ist wichtig, ein Vorbild zu haben, als Direktor oder als Tänzer. Man steht Abend für Abend auf der Bühne als irgendein Hofherr - und dann kommt die Fonteyn - und es ist jedes Mal ein Wunder!" In dieser Erkenntnis, innerhalb einer Tradition zu stehen und Vorbilder anzuerkennen, versuchte Cranko in seinen Balletten die britische und die russische Tradition zu vereinigen. Er machte mit einfachen Ballettschritten komplexe psychologische Spannungen sichtbar. Seine Arbeitsweise führte er auf seine Lehrerin Vera Volkova zurück: "Sie hat nicht nur die einzelnen Schritte beschrieben, ihre Technik, sondern sie hat uns immer darüber hinaus ein Bild davon gegeben. Sie hat uns eine Bewegungskette wie einen gesprochenen Satz erklärt. Stark oder schwach betont, in einer eigenen Dynamik." Diese Methode machte er zu seiner eigenen: Er gab seinen Tänzern immer einen Sinn für ihre Bewegungen. Bewegung um der Bewegung willen gab es bei Cranko nicht.
Marcia Haydée, seine Primaballerina, Muse und Tatjana der Uraufführung, hat ihre Zusammenarbeit mit Cranko wie ein Spiel beschrieben: jungfräulich sei sie in die Proben des neuen Balletts gegangen, völlig aufnahmebereit für die Dinge, die Cranko mit ihr kreieren wollte. Am Anfang standen ausführliche Gespräche. Der Choreograph legte ihr seine Ideen dar und schilderte die Figur, die er sehen wollte und sie setzte es um. "Er hat mir viel Freiheit gelassen. Er ist immer auch auf meine Vorschläge eingegangen. Denn ich muss wissen, warum ich etwas tue. Es geht nicht, erst die Schritte zu machen und dann den Charakter darauf zu setzen." Haydée analysierte nicht, was sie tat, sondern vertraute auf Cranko und ihre Intuition. Im I. Akt des ONEGIN tat sie nichts anderes, als Tatjanas Verliebtheit zu tanzen, sie reagierte auf Onegin und zeigte in jeder Geste und Haltung: Ich bin in Onegin verliebt. Sie las weder Puschkin, noch dachte sie über Schritte nach, wenn sie tanzte. Bei den Pas de deux, die meist in sehr kurzer Zeit gestellt wurden, legte Cranko zu einer bestimmten Musik die Choreographie an und koordinierte musikalische und mimische Akzente. Danach feilten Marcia Haydée und Ray Barra in einer Ecke des Ballettsaales gemeinsam an den Schritten, Griffen und Hebungen, während Cranko mit der Gruppe weiterarbeitete. "Obwohl die Pas de deux des ONEGIN sehr schwierig sind, fielen sie mit Marcia leicht. Wir mussten nicht viel überlegen, es passierte einfach so", charakterisierte Ray Barra seine Arbeit an ONEGIN. Er eignete sich Schritt für Schritt die Rolle an, korrigiert und geleitet von Cranko baute er sich die Partie nach seiner Persönlichkeit, bis sie zu ihm passte. "Cranko ließ den Solisten Freiheiten in der Gestaltung der Rolle. Er gab uns Anregungen und verwies uns vor allem auf Puschkins Roman, den wir immer und immer wieder lasen. (...) Während einer Szene im II. Akt sollte ich am Rande auf meinen Einsatz warten. Mir schien die Zeit sehr lang, und ich fragte Cranko, was ich denn tun sollte. Er antwortete nur: 'Spiel Karten.' So kam das Kartenspiel in diese Szene." Cranko vertraute bei der Realisierung der Pas de deux ganz auf seine Tänzer. "Im allgemeinen hat er uns einen Schritt gegeben, aber dann im Bewegungsfluss hat sich der Körper etwas anders bewegt, und dann hat er gesagt: Ja, das ist gut, das behalten wir bei. Und so war es auch bei manchen Hebungen. Es war eben wirklich eine Zusammenarbeit. Nie hat er gesagt: ‚Das muss so, so, so sein!’" Haydée hat erzählt, dass Cranko in Tatjana ursprünglich ein junges Füllen sah, täppisch und ungelenk. Und obwohl die Tänzerin mit dieser Sicht nicht einverstanden war, spielte sie Tatjana anfangs so, wie er es wollte, überzeugte ihn schließlich aber mit ihrer eigenen Interpretation.
Doch bei aller Würdigung der Intelligenz und Arbeitswut Crankos, seiner Geselligkeit und Offenheit und nicht zuletzt der inspirierenden Mitarbeit seiner Tänzer wird oft vergessen, dass ein Großteil seiner choreographischen Arbeit von seinem Team geleistet wurde. Diese Arbeit seiner Ballettmeister Anne Woolliams, Peter Wright, Alan Beale und Georgette Tsinguirides charakterisierte Cranko wie folgt: "Ich habe eine Idee, kann sie nicht klar in Bewegung ausdrücken, versuche es durch eine Metapher zu erklären - und ein guter Ballettmeister kann mir helfen, eine Form für meinen Wunsch zu finden. Ein guter Ballettmeister findet Schritte. Man sitzt da und grübelt, und er macht einen Schritt, und mit einem Mal weiß man: so geht es, so geht es weiter. Allein zu arbeiten ist für mich schwer, und diese schöpferische Didaktik von Ballettmeistern brauche ich. Sie ist kaum zu finden. Schwerer als Primaballerinen." Für die Kreation seiner Ballette waren Crankos Mitarbeiter insofern unentbehrlich, als der Choreograph eine Szene stellte und seinen Assistenten dann das Putzen überließ: ihnen oblag die exakte Ausarbeitung der Bewegungen, das Trainieren der Tänzer, das Einstudieren, und eben auch das Erfinden von Schritten für den Choreographen. So hatten seine Ballettmeister bei der schöpferischen Arbeit im Stuttgarter Ballett die eigentlich tragende Funktion inne. Sie leisteten - wie die Tänzer - weit mehr als ihre professionelle Funktion ihnen vorschrieb: Sie schenkten John Cranko die Schritte, aus denen er seine Ballette schuf.

Programmheftartikel für das Ballett der Wiener Staatsoper und Volksoper zur Neuproduktion von Onegin 2006.